7. April 2022 | Gedankenanstoß

Alle Brüder und Schwestern werden Menschen

Alle Brüder und Schwestern werden Menschen – Gemeinde: ein Ort der geheiligten Menschlichkeit

Fast müssten wir uns beim alten Schiller entschuldigen, dass wir die Zeile aus seiner „Ode an die Freude“ so verdreht haben. Ganz Kind seiner Zeit, inspiriert vom Geist der Aufklärung und den Geschehnissen rund um die Französische Revolution, träumte er von einer Menschheit, die von Brüderlichkeit geprägt ist. Ohne Standesunterschiede. Ohne Ungerechtigkeit. Er träumte von einer Menschheit, in der sich alle darauf besinnen, dass sie letztlich Geschwister sind, Kinder eines „lieben Vaters“, der „überm Sternenzelt“ wohnt. Weltliche Gedanken in einer noch stark kirchlich geprägten Zeit und Welt. Knapp 350 Jahre später und in einem ganz anderen gesellschaftlichen Zusammenhang beschäftigen wir uns mit der Frage, was Gemeinde sein in unserer Zeit und Welt eigentlich bedeutet. Was ist Gemeinde? Wie ist Gemeinde? Wo ist Gemeinde? Und auch: Wer ist Gemeinde? Geistliche Gedanken in einer Kultur, die Kirche weithin als „Auslaufmodell“ betrachtet.

Geschwister kann man sich nicht aussuchen
Die Gemeinde wird manchmal auch als „Familie Gottes“ beschrieben. Ein zutreffendes Bild. Jeder Mensch, der sein Leben Jesus anvertraut hat, ist von Gott als Kind angenommen.1 Ohne Unterschied. Damit sind Christen Geschwister in der Familie Gottes. Dieses „Familienverhältnis“ soll sich in unserem Zusammenleben in der Gemeinde widerspiegeln. Und über die Jahrhunderte haben sich dafür viele unterschiedliche Ausdrucksformen entwickelt. Eine davon war zum Beispiel, dass es bis vor nicht allzu langer Zeit in pietistisch geprägten, konservativen Gemeinden abseits der großen Kirchen vielfach üblich war, sich untereinander mit „Bruder“ und „Schwester“ anzureden. Alte Lieder zeugen davon, zum Beispiel „Ein einig Volk von Brüdern, das ist das Volk des Herrn …“ von Hermann Heinrich Grafe.2
Doch wie in einer natürlichen Familie kommt man auch in der Gemeinde immer wieder einmal zu der (leise seufzenden) Erkenntnis: „Geschwister kann man sich nicht aussuchen.“ Dementsprechend stoßen Menschen in der Gemeinde auch immer wieder an Grenzen im Zusammenleben. Es kann zu Spannungen und Reibereien kommen oder – genau wie in natürlichen Familien – zu Eifersucht, Konkurrenzdenken und Rivalität unter den Geschwistern.

Gemeinde – ein besonderer Ort
Nun ist eine Gemeinde ein ganz besonderer Ort. Genau genommen ist sie nicht einmal in erster Linie ein Ort, sondern ein Organismus.3 In jedem Fall ist Gemeinde aber der Platz, der Lebenszusammenhang, in dem Menschen, die zu Jesus gehören, lernen dürfen, was es heißt, nach den Grundsätzen Gottes zu leben. In der Gemeinde üben wir gewissermaßen das Leben in Gottes Königreich und unter seiner Herrschaft ein. Und jeder Mensch, der sein Leben ganz von Jesus, seinem stellvertretenden Opfer für uns und seiner Vergebung abhängig macht, gehört zur Gemeinde Jesu. Gemeinde nach Gottes Idee ist also ein Platz für Menschen und fürs Menschsein. Aber was bedeutet das eigentlich – Mensch zu sein?

Mensch sein – menschlich sein
Man sollte meinen, das mit dem Menschsein müsste eigentlich ganz einfach sein. Immerhin können wir gar nichts anderes sein als Menschen. Doch allein wenn wir uns etwas mit dem Wort „Mensch“ und seinen Ableitungen beschäftigen, merken wir, wie schwierig die Frage in Wirklichkeit ist: Die Beschreibung „menschlich“ hat in unserer Sprache unterschiedliche Klangfärbungen. Als menschlich bezeichnen wir jemanden, der menschenfreundlich, tolerant und nachsichtig ist. Mit „menschlich“ beschreiben wir aber auch die Unvollkommenheit des Menschen, etwa indem wir feststellen „Irren ist menschlich“. Der „Faktor Mensch“ ist die Umschreibung einer möglichen Fehlerquelle, und der Satz „Ich bin auch nur ein Mensch“ wird oft ausgesprochen, wenn jemand an die Grenzen seines Könnens oder seiner Belastbarkeit gestoßen ist. Und ironischerweise können nur Menschen unmenschlich mit anderen Menschen umgehen. Wir Menschen sind komplexe, komplizierte und oft widersprüchliche Wesen. Die Bibel sagt über uns: Wir sind Gottes Geschöpfe, die er nach seinem Bild und als sein Gegenüber erschaffen hat.4 Gott hat in uns seine Eigenschaften hineingelegt und uns einzigartig begabt. Jeder Mensch auf dieser Erde spiegelt Facetten des Schöpfers wider. Damit hat Gott uns einen wunderbaren Wert und eine unbegreifliche Würde verliehen.

Wir sind aber auch Gottes Geschöpfe, die täglich mit den Folgen des Sündenfalls zu kämpfen haben – ob es uns bewusst ist oder nicht. Der Apostel Paulus formuliert es so: „Alle sind schuldig geworden und haben die Herrlichkeit verloren, in der Gott den Menschen ursprünglich geschaffen hatte“ (Römer 3,23, Gute-Nachricht-Bibel). Wir sind Menschen „jenseits von Eden“.

Neue Menschen für eine neue Welt
Weil wir dennoch Gottes geliebte Geschöpfe sind, hat er einen Weg geschaffen, um diesen Riss zu heilen. In Jesus kam Gott selbst auf diese Erde, wurde Mensch, lebte als Mensch und starb als der einzige Mensch, der völlig ohne Sünde war, für die Sünde der gesamten Menschheit. Gott selbst überwand die Trennung zwischen uns und ihm, damit wir wieder in Gemeinschaft mit ihm leben können. Und Jesus blieb nicht tot, sondern der Vater holte ihn ins Leben zurück. Damit haben Sünde und Tod endgültig ihre Macht verloren. Das gilt auch für alle, die zu Jesus gehören. Wenn er in unser Leben kommt, renoviert er nicht nur ein bisschen, sondern er macht uns zu ganz neuen Menschen.5 Jesus selbst nennt das „von Neuem geboren werden“.6 Es ist kaum zu fassen, was da geschieht: Wenn wir uns ganz von Jesus, von seinem stellvertretenden Opfer für uns und von seiner Vergebung abhängig machen, macht er uns durch den Heiligen Geist zu den Menschen, als die Gott uns gemeint hat.

Was folgt, ist ein Wachstumsprozess. Das neue Geschöpf muss leben lernen und Leben lernen, und zwar nach den Gesetzmäßigkeiten, die in Gottes ewiger Welt herrschen. Dieses von Gott bewirkte Wachsen und Lernen geschieht allerdings unter den äußeren Bedingungen unserer von den Folgen der Sünde gezeichneten Welt. Menschen, die mit Jesus leben, leben ganz real in zwei Welten. Ein enormes Spannungsfeld! Dieser Spagat würde uns zerreißen, wenn Gott nicht seinen eigenen Geist in uns legen würde. Der Heilige Geist bewirkt die notwendigen Veränderungen und das nötige Wachstum in uns und macht uns so für Gottes Welt lebensfähig.

Gemeinde – ein Ort der geheiligten Menschlichkeit
Vielleicht fragen Sie sich an diesem Punkt, was dieser enorm weite Bogen soll, den ich hier geschlagen habe. Meine Antwort: Mir ist es wichtig deutlich zu machen, womit und mit wem wir es überhaupt zu tun haben, wenn wir von Gemeinde sprechen. Ich wünsche mir, dass wir loskommen von eingefahrenen oder auch bequemen Gemeindebildern. Denn Gemeinde ist ja viel mehr als der Sonntagsgottesdienst, in dem wir zusammensitzen. Gemeinde ist auch viel mehr als Leute, mit denen wir uns mehr oder weniger gut verstehen und über die wir im Zweifelsfall leise seufzen: „Geschwister kann man sich nicht aussuchen.“ Es war C. S. Lewis, der sagte: „Es gibt keine gewöhnlichen Menschen. Wir haben nie mit bloßen Sterblichen gesprochen.“7 Das gilt in ganz besonderem Maße für das Zusammenleben in der Gemeinde. Wir haben es nicht mit bloßen Sterblichen zu tun, sondern mit Menschen, die durch den Geist Gottes Jesu Bild immer ähnlicher werden, weil seine Herrlichkeit uns verwandelt.8

Wir leben in einem Spagat zwischen „schon jetzt“ und „noch nicht“. Wir sind durch Jesus schon von der Macht der Sünde erlöst, aber wir haben immer noch mit ihren Auswirkungen zu tun. Wir sind schon neue Menschen, Kinder Gottes, aber „was wir einmal sein werden, ist jetzt noch nicht sichtbar“ (1. Johannes 3,2a, Gute-Nachricht- Bibel).

Angesichts dieser Wirklichkeit sind wir in der Gemeinde miteinander als „werdende Menschen“ unterwegs. Wir lernen unter der Anleitung des Heiligen Geistes, unser eigenes Leben und das Zusammenleben mit anderen Menschen nach Gottes Maßstäben zu gestalten – mit einem alten Wort nennt sich dieser Lernprozess „Heiligung“. Wir lernen, in Gottes Sinn menschlich zu sein. Wir lernen, in Gottes Sinn menschlich miteinander umzugehen. So ist die Gemeinde ein Ort der geheiligten Menschlichkeit. Ein Ort, an dem die Geschwister in Gottes Familie echte Menschen werden.

DL

1 Johannesevangelium 1,12f.
2 Hermann Heinrich Grafe (1818-1869) war übrigens Mitbegründer der ersten Freien evangelischen Gemeinde in Deutschland und gilt als einer der „FeG-Väter“.
3 Siehe 1. Korintherbrief 12, Epheserbrief 4.
4 Nachzulesen in 1. Mose 1 und 2.
5 2. Korintherbrief 5,17.
6 Johannesevangelium 3,3ff.
7 C. S. Lewis: „Das Gewicht der Herrlichkeit“.
8 2. Korintherbrief 3,18b.