23. Januar 2022 | Gedankenanstoß

Und dann beschloss sie zu sterben.

Einsamkeit war ihr stetiger Begleiter die letzten Jahre, Monate und Tage. Das Leben war ihr abhandengekommen. Und schließlich hatte sie sich eines Tages vom Leben verabschiedet.

Erst war ihr Mann gestorben und wenige Wochen nach ihm ihr geliebter Dackel, der seinem Herrchen wohl direkt folgen wollte. Sie hatte sehr getrauert um diese zwei wichtigen Konstanten in ihrem Leben, und doch war sie nach einiger Zeit wieder aufgeblüht, hatte ihren Lebensabend selbstbestimmt gestaltet und Freude an ihren Kaffeekränzchen, Restaurant- und Konzertbesuchen gehabt. Sie war für ihre 80 Jahre noch recht rüstig, nur ihr Augenlicht wurde immer schlechter. Aber sie ließ sich davon nicht einschränken und lebte ein aktives, selbstbestimmtes Leben mit ihren Freundinnen. Freundinnen, die sie teils seit Kindertagen kannte. Freundinnen, die gemeinsam mit ihr Flugzeuge für den Krieg zusammengebaut hatten. Frauen, die so wie sie im Nürnberger Grand Hotel gearbeitet und ihre ersten Nylonstrümpfe von netten jungen Amerikanern geschenkt bekommen hatten, wie sie noch 70 Jahre später mit leuchtenden Augen erzählte. Freundinnen, die gemeinsam mit ihr das zerbombte Haus wieder aufgebaut hatten, in dem sie nun auch sterben würde.

Als acht Jahre nach ihrem Mann ihr Sohn starb, brach es ihr das Herz. Keine Mutter sollte ihr Kind beerdigen müssen. Von ihrer Familie waren ihr nur noch ihre Tochter und ihre zwei Enkelinnen geblieben. Mittlerweile hatte sie schon drei Urenkel, was ihr doch hin und wieder noch ein kleines Lächeln auf die Lippen trieb, doch es erreichte ihr Herz nicht mehr.

Dann starb Gertrude, kurz danach Ilse und Margot. Hildegard lebte noch, war mittlerweile jedoch so dement, dass sie oft stundenlang durch die Stadt irrte und ihre, schon vor langer Zeit gestorbene Mutter, suchte. Ab da wurde sie in einem Pflegeheim versorgt und ja, eingesperrt, so sah sie das. Doch die Hildegard, die sie gekannt hatte, war schon lange verschwunden. Die wenigen Male, die sie sie noch im Heim besuchen konnte, sah sie nicht mehr ihre Freundin vor sich, die toughe Frau mit der großen Klappe, sondern ein kindliches Wesen, das meist über Erlebnisse mit ihren Eltern vor 80 Jahren sprach. Nach wenigen Monaten starb auch Hildegard.

Ihr freitägliches Treffen im Gasthaus, bei dem sie traditionell Fisch aß, schrumpfte von ursprünglich sechs älteren Damen auf zwei. Als schließlich auch der Herr Pfarrer, mit dem sie sich am Freitag im Gasthaus immer so hervorragend über Gott und die Welt unterhalten hatte (und das, obwohl er evangelischer Pfarrer war!), nicht mehr erschien, weil er in den Ruhestand gegangen war, da ging sie freitags auch nicht mehr essen.
Sie war ja auch nicht mehr so gut zu Fuß. Das Konzertabo für die Symphoniker kündigte sie und wenn ihre Familie sie in zu ihrem Stammitaliener einladen wollte, sagte sie immer häufiger ab.

Auch das Einkaufen übernahm bald ihre Haushaltshilfe für sie. So bestand ihr Kontakt zur Außenwelt in den Besuchen ihrer Tochter, dem wöchentlichen Besuch der Haushaltshilfe und den immer seltener werdenden Telefonaten mit den wenigen verbliebenen Freundinnen. Meist saß sie in ihrem Fernsehsessel und guckte fern, aber oft schlief sie auch ein und wusste dann nicht mehr, was in der Flimmerkiste lief. Dafür schlief sie nachts sehr schlecht. Ihr früher so tadelloses Auftreten in perfekt abgestimmten Kostümen, rotem Lippenstift und teurem Parfüm war nur noch eine vage Erinnerung. Sie erfreute sich am Zwitschern der Vögel, an den Blumen in ihrem Garten, dem kleinen Magnolienbäumchen, das sie von ihrer Tochter und ihren Enkelinnen geschenkt bekommen hatte, und manchmal an einem eiskalten Radler. Aber meist trank und aß sie sehr wenig. Sie kochte nicht mehr, denn die Freude, die sie früher daran gehabt hatte, spürte sie nicht mehr. Sie verschwand immer mehr von der Welt. Wollte mit all dem »da draußen« nichts mehr zu tun haben. Das Leben erschien ihr so schwer, jeder Atemzug war eine Last. Sie hatte alles gelebt und geliebt, was ihr in diesem Leben geschenkt worden war, aber sie spürte, dass es jetzt genug war. Sie war müde. So müde.

Kurz bevor sie ihre Augen schloss und ihre letzten Atemzüge tat, sagte sie leise: »Ich geh‘ jetzt zu meinem Vater.«

KW